Was ich am Radfahren liebe
Stell dir vor, du fährst mit dem Auto auf einer wenig befahrenen Landstraße, es ist kurz nach Sonnenaufgang. Nebelschwaden liegen in manchen Senken, die Morgensonne lässt den Tau auf den Feldern aufleuchten. Es ist friedlich, der neue Tag steckt voller Möglichkeiten. Und jetzt stell dir vor, du sitzt nicht im Auto, sondern auf dem Rad, die Luft ist noch kühl von der Nacht und es ist feucht. Du bewegst dich, die letzten Reste der Nacht fallen von dir ab, du atmest die frische Luft und riechst den feuchten Boden, du spürst den Fahrtwind im Gesicht.
Stell dir vor, du hast den ganzen Tag am Schreibtisch gearbeitet. Du hast vor dem Computerbildschirm gesessen, bist vielleicht ab und an aufgestanden, um dir einen Kaffee oder Tee zu holen. Du hast in der Bibliothek stundenlang recherchiert und dein Kopf fühlt sich müde an, hinter deiner Stirn steckt ein nasser Schwamm. Dann packst du zusammen, steigst auf dein Rad und fährst nach Hause. Spätestens wenn du aus der Stadt mit ihrem Verkehr raus bist, hast du den Arbeitsmuff des Tages herausgestrampelt. Deine Muskeln bewegen sich wieder, du wirst wacher.
Stell dir vor, es ist Winter. Vielleicht liegt Schnee, wahrscheinlich aber ist es einfach nur feucht und die Temperaturen liegen irgendwo um die null Grad. Dein Rücken ist schweißnass, die Arme, der Po und die Wangen dafür eiskalt. Du fährst nach Hause, ziehst Handschuhe, Helm und Mütze aus und kommst erstmal an, bevor du unter die schöne warme Dusche gehst.
Stell dir vor, du kannst einfach so am Straßenrand halten, um mit den Kindern einem Kran, Bagger oder Traktor bei der Arbeit zuzusehen und stehst niemandem im Weg.
Stell dir vor, du kannst ein kleines Blaulicht an dein Fahrrad binden und unter lauten Tatütatarufen durch den Ort fahren.
Stell dir vor, du hast deine Kinder auf dem Fahrrad vor dir sitzen. Sie stellen Fragen über die Dinge, die sie auf dem Weg sehen, erzählen von ihrem Tag oder von ihren Ideen, spielen miteinander oder sind selbstversunken mit der Welt im Reinen. Du freust dich darüber, dass sie da sind und zu dir gehören.
Stell dir vor, du hast einen stressigen Tag, an dem du ohne Pause Verschüttetes aufwischst, Windeln wechselst, Streit schlichtest, aufräumst oder antworten musst, obwohl du müde bist. Du setzt die Kinder ins Rad, machst das Verdeck zu, radelst eine Weile in wohltuender Stille und schöpfst wieder Kraft.
Stell dir vor, du warst bei Freunden zu Besuch oder kommst von einer Verabredung im Biergarten. Die Gesellschaft war schön, es gab gute Gespräche und vielleicht auch gutes Essen. Jetzt ist es ruhiger um dich herum, du fährst im Dunkeln Richtung Heimat, im Westen ist der Himmel noch heller. Die Luft ist warm, du hörst Insekten und ab und zu fährt ein Auto vorbei. Der Schein deiner Fahrradlampe beleuchtet nur den Weg direkt vor dir, manchmal taucht ein Falter im Lichtschein auf. Die Luft riecht nach Sommernacht.
Stell dir vor, du warst mit deiner Familie unterwegs. Es ist nicht wirklich spät, aber die Kinder sind müde und dürfen damit sie nicht einschlafen während der Fahrt auf dem Smartphone Shaun das Schaf schauen. Das Verdeck ist geschlossen, ab und zu dringt Schafsblöken an dein Ohr. Du und dein Mann radelt gemeinsam, ihr unterhaltet euch über euren Tag.
Stell dir vor, es geht bergab.
Radfahren ist nicht immer schön, manchmal ist es auch kalt, nass, schmutzig und nervtötend. Wenn es aber eben das nicht ist, wirst du belohnt.