Fahrradfahren: Kosten und Nutzen
In letzter Zeit habe ich häufig darüber nachgedacht, ob ich in der Stadt auch so viel mit dem Rad unterwegs wäre. Wahrscheinlich nicht.
Im Normalfall ist man in der Stadt mit dem Fahrrad genauso schnell oder sogar schneller am Ziel als mit dem Auto. Parkplätze für Fahrräder sind kostenfrei, man muss kaum Umwege fahren sondern kann sogar oft Wege abkürzen. Damit ist ein Fahrrad das ideale Transportmittel in der Stadt. Eigentlich. Wären da nicht die anderen Verkehrsteilnehmer.
Ich bin mindestens einmal pro Woche in Darmstadt unterwegs und fühle mich dabei selten sicher. Der Hauptgrund dafür sind Autofahrer*innen und der fehlende Platz für Fahrräder im Straßenverkehr. Darmstadt scheint auf einem guten Weg zu sein, ist aber noch lange nicht angekommen. Das Ziel ist, bis 2030 30% Radverkehrsanteil zu haben.
Ich bin der Meinung, dass Autofahrer*innen, Radfahrer*innen und Fußgänger*innen im Straßenverkehr gleichberechtigt sein sollten. Dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht, da besonders in Städten einiges auch gegen den Willen der Autofahrer durchgesetzt und gebaut werden muss.
Prof. Peter Furth von der Northeastern University in Boston erklärt in einem Video (in englischer Sprache) einige Regeln für die Anlage von Straßen und Radwegen, die den Verkehr für alle Teilnehmer sicherer macht. Wichtiger Bestandteil ist genug Raum. Als ich vor fast 15 Jahren für zwei Tage in Kopenhagen unterwegs war hat es mich sehr überrascht, wieviel Platz für Fahrräder vorgesehen ist. Es gibt breite Wege, teilweise zweispurig, die häufig baulich vom Autoverkehr getrennt sind. Mit dem Auto dort zu fahren war hingegen eine Herausforderung, besonders in unserem Bulli Kasimir.
2012 waren wir dann mit dem Tandem in Schweden und genossen es, in Malmö zu fahren. Es gab auch hier viel Platz für den Radverkehr. Zwar schrammten wir sehr knapp an einem Dooring-Unfall vorbei, der junge Autofahrer war sichtlich erschrocken und hat sich sofort vergewissert, dass nichts passiert ist. Trotzdem hatten wir während der gut 2000 km so gut wie immer das Gefühl sicher unterwegs zu sein. Das lag zu einem großen Teil daran, dass Fahrradfahrer*innen als Verkehrsteilnehmer*innen ernst genommen werden und Raum bekommen, auch außerhalb der Städte und auf Landstraßen.
Ich bin über ein weiteres Video gestolpert, in dem eine zehnminütige Fahrt über niederländische Straßen gezeigt wird. Dort zu fahren macht sicherlich Spaß. Auffallend ist, dass neben der Fahrradinfrastruktur wie gesonderte Ampeln, baulich getrennte Aufstellmöglichkeiten an Kreuzungen und leicht erreichbare Ampeldrückern den Fahrrädern viel Raum gelassen wird. Der freie Raum um mein Fahrrad herum trägt zur subjektiven und objektiven Sicherheit bei.
Um eines wieder einmal klar zu stellen: Ich bin nicht für eine Verbannung von Autos. Autos sind nützliche Fortbewegungsmittel. Ich bin aber davon überzeugt, dass viele Menschen problemlos auf die meisten Strecken mit dem Auto verzichten könnten. Ist es nötig, das Kind mit dem Auto die 700 m zur Sporthalle zu fahren? Warum nicht den Bus nehmen für die Fahrt in die Stadt? Warum nicht mit dem ÖPNV zur Arbeit und zurück fahren oder vielleicht mit einer Kombination aus ÖPNV und Rad oder gleich ganz mit dem Rad?
Okay, ÖPNV und Radstrecken müssen ausgebaut werden, wenn mehr Leute mit oder auf ihnen fahren. Ich kann auch verstehen, dass einige Leute gute Gründe haben, aus denen sie mit dem Auto fahren, z. B. eine körperliche Behinderung oder den absoluten Unwillen, durch den Winterregen zu fahren. Aber für die meisten Leute gilt: probiert es aus! Es gibt Fahrräder mit Motor, mit denen man weniger oder gar nicht verschwitzt im Büro ankommt. Eine Busfahrkarte kostet etwa soviel wie das Benzin für das Auto, ganz zu schweigen von Versicherungs- und Parkplatzkosten. Gegen verschwitzte/nasse/unschicke Kleidung kann man in der Fahrradtasche Wechselkleidung mitnehmen. Nur das Problem mit den durch einen Helm plattgedrückten Haaren lässt sich nicht so einfach lösen, außer vielleicht durch eine Kahlrasur.
Aus einem Artikel über die Wirkungen von Gesundheitssport stammt folgendes Zitat: „Kein gesundheitlicher Risikofaktor ist in der Bevölkerung so verbreitet wie die körperliche Inaktivität!“ Radfahren hat aber nicht nur für die fahrende Person positive Auswirkungen (Bewegung jeden Tag, weniger Rückenprobleme, leichtere Parkplatzsuche, relativ geringe Kosten bei Anschaffung und Unterhalt, es beinhaltet auch weniger gesamtgesellschaftliche Kosten für alle. Die folgenden Zahlen habe ich vom Umweltbundesamt , dort sind auch die entsprechenden Quellen angegeben:
- 30 Minuten moderate Bewegung am Tag, z.B. zu Fuß gehen oder Radfahren senken das Risiko, an Übergewicht und den damit verbundenen Folgekrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes zu leiden. Das entlastet das Gesundheitssystem.
- Die Risiken wie erhöhtes Unfallrisiko und vermehrte Belastung durch Feinstaub werden durch die Gesundheitsvorteile mehr als wett gemacht.
- Fahrradfahrende Angestellte haben durchschnittlich weniger krankheitsbedingte Fehltage.
- 2018 war der Straßenverkehr bundesweit für 18% der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Wenn man Rad fährt oder zu Fuß geht statt im Auto zu fahren, spart das 147g Treibhausgasemissionen pro zurückgelegtem Kilometer. In Deutschland werden pro Tag gut 3,2 Milliarden Personenkilometer zurückgelegt (uiuiui), davon 3% mit dem Rad. Wenn jetzt (Achtung, sehr hypothetisch) jede Person täglich 5 km zur Arbeitsstelle hin und 5 km wieder zurück fährt, spart sie im Jahr 300 kg CO2-Emissionen.
- Die bei der Herstellung eines Pedelec-Akkus anfallenden CO2-Emissionen sind bereits nach durchschnittlich 165 Radkilometern beglichen, wenn dafür das Auto stehen gelassen wird. Für diese 165 km braucht man nicht mal einen Monat, bei einem einfachen Arbeitsweg von 5 km Länge.
- Radfahren verursacht keinen Feinstaub und keine Stickoxide.
- Nicht nur der fließende, sondern auch der ruhende Verkehr belastet die Umwelt. Damit sind keine Staus gemeint, sondern parkende Autos, für deren Stellplätze wertvolle Fläche versiegelt werden müssen. Auf der Fläche, die ein Autoparkplatz braucht, kann man acht Fahrräder abstellen (um bequem ans eigene Rad zu kommen, eher fünf oder sechs). Die Baukosten für sechs bis acht Fahrradstellplätze auf derselben Grundfläche liegen zwischen 50 und 300€.
- Fahrräder sind geräuscharm.
- Der Unterhalt eines Fahrrads ist günstiger als der eines Autos: Die Kosten für Anschaffung, Reparatur, Zuschlag für fahrradspezifische Ausstattung wie Fahrradtasche oder Regenhose belaufen sich auf 10 Cent pro Kilometer. Bei einem PKW sind Wertverlust, Reparatur, Versicherung, Stellplatzkosten und Betriebsmittel zu berücksichtigen. Damit belaufen sich die Betriebskosten je nach Modell auf 40 Cent bis über 3 Euro pro gefahrenem Kilometer (Uff!).
- Die Umweltkosten (Luftverschmutzung, Lärm, Klimagasemissionen, Eingriffe in Natur und Landschaft) werden von der Allgemeinheit getragen und liegt bei durchschnittliche 6,4 bis 7,5 Cent pro gefahrenem PKW-Kilometer. Nicht eingerechnet sind Unfallkosten und der Zeitverlust durch Staus.
Aber: Ich denke, dass es schwer ist, mehr Leute vom Auto wegzubringen, solange die entsprechende Infrastruktur nicht steht. Wenn der Verzicht auf das Auto für mich wirklich ein Verzicht ist, wenn ich also signifikant mehr Zeit auf dem Weg von und zur Arbeit verbringe und es noch dazu weniger bequem habe, fällt mir die Entscheidung für das Auto nicht schwer. Wer vom Weiterstädter Bahnhof zum Frankfurter Hauptbahnhof fahren möchte, ist mit Glück nur etwas mehr als eine halbe Stunde mit der Bahn unterwegs, je nach Verbindung aber fast eine ganze Stunde. Nicht eingerechnet ist der Weg zum und vom Bahnhof. Dabei muss man einmal umsteigen. Im Berufsverkehr sind die Bahnen voll, teilweise hat man keine Chance auf einen Sitzplatz. Die Fahrradmitnahme ist in Stoßzeiten auch nicht immer möglich. Gerade in der Erkältungszeit ist die Ansteckungsgefahr höher als alleine im Auto, besonders in der momentanen Situation ein wichtiger Aspekt. Mit dem Rad dauert es eineinhalb Stunden von Bahnhof zu Bahnhof, es sind etwa 30 km zu fahren. Da wäre man am Tag drei Stunden mit Pendeln beschäftigt. Mit dem Auto ist es eine halbe Stunde, wenn kein Stau ist. Welches Transportmittel nehme ich also? Die Lösung wären hier bessere und häufigere ÖPNV Verbindungen. Henne-Ei Problem: damit die sich lohnen, müssten mehr Menschen mit dem Zug zur Arbeit fahren.
Für mich ist es kaum eine Einschränkung mit dem Rad zu fahren, weil ich einerseits nicht regelmäßig Strecken von mehr als 13 km zurücklegen muss (zumindest solange ich noch Vollzeitmutter bin), und weil wir andererseits nicht in der Stadt wohnen. Die 16 km Weg zu einem wöchentlichen Termin sehe ich als Gelegenheit, Sport zu machen und lege sie auch manchmal mit dem Rennrad zurück. Besonders mit den Kindern möchte ich möglichst wenig auf stark befahrenen Straßen unterwegs sein. Ich bin froh, dass unser Kindergarten und später auch die Grundschule sich in Lauf- bzw. Kinderfahrweite befinden und das wir uns innerorts auf Dorfstraßen bewegen, außerorts auf meistens vom Autoverkehr getrennten Radwegen. Es gibt wenig Konfliktsituationen, und ich kann die Kinder spätestens ab Schulalter auch alleine laufen lassen. In der Stadt wäre die Lage eine andere. In der Ecke, in der wir früher wohnten, sind die Nebenstraßen zwar nicht stark befahren, aber so zugeparkt, dass ein Kind da leicht übersehen werden kann.
Und mit am wichtigsten ist, dass es außerhalb der Stadt innerorts nicht so viele große, unübersichtliche Kreuzungen gibt, und auch weniger LKW. Generell sind Fahrradunfälle mit LKW Beteiligung zwar selten, sie stellen aber einen hohen Prozentsatz der tödlichen Fahrradunfälle dar.
Auf meinen Wegen passiere ich häufiger Geisterräder. Dabei handelt es sich um weiße Räder, die an zur Mahnung und Erinnerung dort aufgestellt sind, wo Fahrradfahrer*innen im Straßenverkehr gestorben sind. Meist sind sie beschriftet mit „Radfahrer/in, Alter, Todestag“. Eines dieser Räder steht in Darmstadt in unmittelbarer Nähe des Klinikums, wo einer meiner ehemaligen Lehrer von einem Laster überrollt wurde. Nicht nur dieses, auch die anderen Geisterräder erinnern mich immer wieder daran, wie ungeschützt ich als Radfahrerin bin.
Ich bin gespannt, in welche Richtung sich die zukünftige Verkehrsplanung entwickelt. Vielleicht ist die Coronakrise ja eine Chance zur Verkehrswende? Sichere Straßen für alle Verkehrsteilnehmer*innen lassen sich nicht alleine durch einen Rückbau des Autoverkehrs und die Verbesserung der Radinfrastruktur erreichen. Es würde helfen, das Gefahren- und Regelbewusstsein nicht nur der Autofahrer*innen, sondern auch das der Fahrradfahrer*innen und Fußgänger*innen zu stärken. Nicht nur Autos nehmen Fahrrädern die Vorfahrt, es passiert auch andersherum. Oft genug kommt mir auf einem engen Radweg ein*e Radfahrer*in in der falschen Richtung entgegen. Und wer von uns kennt nicht jemanden, der abends mit dem Rad zum Stammtisch fährt, damit er auch betrunken noch nach Hause fahren kann? Nur: fahre ich selbstverschuldet mit dem Fahrrad in den Graben bin ich alleine dafür verantwortlich. Stoße ich mit einem Auto zusammen, weil Raumnot und fehlende Akzeptanz für Fahrräder im Verkehr auf gestresste Autofahrer*innen treffen, hilft es mir nicht, dass auf meinem Grabstein steht „sie hatte eigentlich Vorfahrt“.
Wie genau jetzt mehr Raum für Fahrräder in den engen, autozentrierten deutschen Städten durchgesetzt werden soll… ich denke, das kann nur mit einem Platzverlust für die immer dickeren Autos einhergehen. Da werden noch einige Kämpfe auszutragen sein. Genauso wichtig ist aber ein solidarisches Umdenken der eigenen Fortbewegung. Nicht mehr alle Wege mit dem Auto zurückzulegen bedeutet für die meisten Leute einen Verzicht auf Bequemlichkeit. Aus eigener Erfahrung kann ich aber sagen: dieser Verzicht bringt gleichzeitig einen Gewinn an Wohlbefinden und Entspannung, sogar in der ungemütlichen Jahreshälfte. Mittlerweile fehlt es mir, wenn ich nicht mehrmals in der Woche ein paar Kilometer fahre. Glaubt ihr nicht? Probiert es aus. Und wenn es für den Anfang nur nach Feierabend die Strecke zur Eisdiele ist.