Vorurteile

Vorurteile

Uns wurde schon als wir Darmstadt wohnten prophezeit, dass wir mit Kindern ein Auto bräuchten und auch wenn wir bei der Haussuche nach Häusern in Fahrraddistanz zu Darmstadt suchten, stießen wir (nicht bei allen) auf Unverständnis, weil wir statt eines Autos ein Lastenrad kauften und uns darüber auch noch freuten. Tatsächlich wäre vieles mit einem Auto bequemer, manches erst möglich, aber bis auf die Tatsache, dass ich meine Großeltern viel seltener besuche als ich es gerne würde (und das tut mir wirklich leid!), ist unser Leben autofrei sehr gut machbar.
Tatsächlich spornt es uns an, den Zweiflern zu beweisen, dass es geht!

Ich habe einige der uns entgegengebrachten Argumente für ein Auto bzw. gegen autofrei zusammengetragen.

– Im Regen/in der Kälte ist es zu unangenehm zu fahren.
Jein. Sicherlich gibt es angenehmeres, als bei um die 0° oder in strömendem Regen zu fahren. Wenn die Alternative aber wäre, mit dem Auto im Verkehr zu stecken oder den überfüllten Bus mit Wartezeiten zu nehmen, setze ich mich lieber auf’s Rad und strampele mich warm. Die richtige Kleidung ist wichtig.
Sollte es mir doch zu kalt werden, kann ich jederzeit das Fahrrad stehen lassen.

– FÜr die Kinder ist es zu nass/zu kalt.
Die Kinder sitzen regen- und windgeschützt im Anhänger oder unter dem Verdeck. Die Temperatur dort ist höher als die Außentemperatur, da der kleine Raum schnell aufgeheizt wird. Dazu eine kleine Geschichte: der Sohn ist die Dreiviertelstunde Fahrt vom Hofgut Oberfeld nach Hause im geschlossenen Anhänger gefahren, er ist dabei eingeschlafen und sein T-Shirt war hochgerutscht, sodass sein Bauch frei lag. Es war kühl, etwa 10°. Als wir ankamen habe ich den freien Bauch bemerkt und mit sehr schlechtem Gewissen gefühlt, wie sehr er ausgekühlt ist und siehe da – die Haut fühlte sich fast heiß an.
Tatsächlich schätze ich die Gefahr für unsere Gesundheit im Sommer höher ein, wenn wir ohne Sonnenschutz unterwegs sind. Sonnencreme hilft zwar gegen Sonnenbrand, gegen den Rest hilft nur Schatten.

– Was ist, wenn die Kinder mal zum Arzt müssen?
Wenn ein Notfall vorliegt, kommt der Krankenwagen. Alles andere geht auch mit dem Fahrrad. Ob meine Kinder mit 40° Fieber im Kindersitz im Auto fahren oder genauso bequem im Anhänger ist egal. Die Parkplatzsuche eingerechnet sind wir mit Auto und Fahrrad gleich schnell. Frische Luft tut auch bei Krankheit gut.
Außerdem: wir können jederzeit auf ein Taxi zurückgreifen.

– Mit dem Fahrrad fahren ist zu gefährlich, egal ob alleine oder mit den Kindern.
Okay, darüber werde ich wohl einen ganzen Artikel schreiben. Hier sind viele Einzelheiten zu beachten, das lässt sich im kurzen nicht klären und erfordert ein bisschen Recherche. Sicher ist: ich möchte meinen Kindern nicht schaden.

– Das Kind weint immer, wenn wir unterwegs sind
Die Tochter weint beim Rad fahren. Obwohl – weinen ist nicht das richtige Wort. Sie hat ihren Unmut schon immer lautstark kundgetan und hatte von Anfang an eine starke Stimme. Beide Kinder fanden es furchtbar, wenn sie in der Babyschale im Auto liegen sollten oder im Kinderwagen. Mit dem Sohn war ich im ersten halben Jahr kaum unterwegs, mit der Tochter musste ich, weil der Sohn raus wollte. Sie hatte ich fast eineinhalb Jahre im Tragetuch oder der Tragehilfe. Solange sie noch in der Hängematte im Fahrrad liegen musste, habe ich beide Kinder wenn möglich getrennt transportiert, einer im Anhänger, der andere vorne auf dem Lastenrad, weil sie fast den gesamten Weg dermaßen laut gebrüllt hat, dass ich wirklich Angst um die Ohren des Sohnes hatte. Die Nachbarn wussten immer, wenn wir unterwegs waren. Aber. Im Auto war das Gebrüll genauso, nur fällt es weniger auf. Der Sohn war dann nach einer Viertelstunde eingeschlafen, der Tochter hielt durch. Länger als eine Dreiviertelstunde habe ich es nicht probiert, die war aber kein Problem für sie. Bei beiden war es eindeutig Wut.
Ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Art des Transportmittels nur geringe Auswirkungen auf die Zufriedenheit der Kinder hat. Mit dem Fahrrad sehen sie mehr von der Umgebung, mit dem Auto ist die Fahrtzeit bei Strecken außerhalb der Stadt oder weiter als 10 km schneller vorbei. Den Kinderwagen lasse ich eher mal stehen.
Mittlerweile hat sich das Gebrüll gelegt. Es gibt zwar immer noch Tage, an denen wir wie mit Sirene fahren, aber es ist kein Vergleich mit noch vor einem Jahr.

– Wenn die Kinder älter sind, wollen/können sie nicht mehr im Lastenrad oder Anhänger sitzen.
Bis dahin fließt noch viel Wasser den Rhein runter. Sie dürfen auf jeden Fall mitfahren, bis sie sechs Jahre alt sind. Was dann kommt, wird sich zeigen. Mit sechs Jahren kann ein Kind auch schon einige Kilometer mit dem Rad fahren, es gibt Vorrichtungen, um ein Kinderrad an ein Erwachsenenrad zu hängen, wir können den ÖPNV nutzen um nach Darmstadt zu kommen und wir haben jederzeit die Option, ein Auto zu kaufen. Vorerst haben wir die für uns richtige Lösung gefunden, was die Zukunft bringt werden wir sehen.

– Der Mann drängt mich zum Rad fahren, obwohl ich das eigentlich nicht will.
Wirklich? Wenn ich nicht autofrei leben wollte, würde ich es nicht tun. Wenn ich nicht Rad fahren wollte, würde ich es nicht tun. Wenn ich ein Auto bräuchte, würden wir uns eins kaufen. Ich bin durchaus in der Lage, meine Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren und durchzusetzen. Der Alltag mit Kind ist mein Job, da bestimme ich darüber, welche Arbeitsmittel ich brauche. Ich stehe voll und ganz hinter dem Leben ohne Auto, solange es für mich gut funktioniert. Sobald ich merke, dass es so nicht geht, ändere ich etwas dran!
Wenn ich jammere, weil ich bei Regen fahren muss oder die Strecke so weit ist heißt das nicht, dass der Mann mich zwingt. Es bedeutet nur, dass ich gerne jammere. Wenn wir gemeinsam Rad fahren, ist das ein geteiltes Erlebnis und häufig fühlen wir uns selbst bei schlechtem Wetter gut dabei.
Zur Erinnerung: Wir sind vier Wochen mit dem Tandem durch Schweden gefahren. Das war unsere Hochzeitsreise, und wir haben uns gemeinsam und freiwillig dafür und gegen einen Gammelurlaub entschieden, und wir haben es beide keine Minute bereut.

– Einen Wocheneinkauf kann man nicht mit dem Fahrrad transportieren.
Doch. Wenn die Kinder dabei sind, muss ich in seltenen Fällen den Anhänger mitnehmen. Ins Lastenabteil und zwei Fahrradtaschen passt gut geschichtet der Inhalt eines vollen (!) Einkaufswagens. Größere Gegenstände wie Wäschekörbe oder Toilettenpapierpackungen sind eine Herausforderung, bis jetzt kam aber immer alles mit. Auch einen Baumarktbesuch kann ich mit Lastenrad meistern. Die Gans an Weihnachten hat sich mit dem Sohn die Sitzbank im Lastenabteil geteilt.
Was schwer ist, sind solche Dinge wir Wäscheständer oder Bügelbretter. Zum Glück kann man sich fast alles liefern lassen.

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